Skip to main content
0173 - 206 99 49 - info(@)timmuessle.de
Diese Seite nutzt keine Cookies.
Hate Speech

Hate Speech: Pöbelei in Nutzerkommentaren

15.04.2015; 16:18
Warum fordert denn keiner die Ausweisung der Volksgruppe der akzentfreien Deutschsprecher ? – von Ferd14 | #1

Ein Leserkommentar unter dem Beitrag „Räuber fesselt drei Menschen bei Aldi-Überfall in Herne“ auf www.derwesten.de.

Hass, Stellvertreterkriege und Pöbeleien sind allgegenwärtig. Sie sind unter uns, mitten im Netz, und sie drohen jedem 14-Jährigen, der ein harmloses Blog über das Schul-Essen eröffnen will. Eine Studie zeigt nun, was gegen Pöbler hilft.

Wer sich mit eigenen Inhalten ins weltweite Netz begibt und den Surfern die Gelegenheit bietet, Kommentare zu schreiben, wird zwangsweise bedroht. Das sagt nicht nur Godwins Gesetz, nach dem so gut wie jede Internet-Diskussion nach einer gewissen Zeit bei einem Nazi-Vergleich landet, das weiß auch jeder, der sich länger als zehn Minuten mit einer Diskussion unter Leserkommentar-Schreibern oder Foren-Aktivisten („Foristen“) beschäftigt hat.

Hate Speech

Das obige Beispiel („akzentfreie Deutschsprecher“) illustriert, wie die Pöbler arbeiten, wie Hate Speech funktioniert: Im Schutz der Anonymität recken sie den Stinkefinger in alle Richtungen. Sie hassen Schwule, den Staat, die Linken, die Rechten, sie verachten die Schwachen, die zu Starken, die zu Schlauen, zu Dummen und die zu Guten sowieso. Sie führen Stellvertreterkriege mit Menschen, die sie noch nie persönlich getroffen haben, über Dinge, die sie kaum kennen. Wie beim Stammtisch ist Ahnungslosigkeit Voraussetzung für herabsetzende Kommentare in Internet-Foren.

Im Januar 2015 trat die Süddeutsche Zeitung auf die Notbremse und schaltete die Leserkommentare auf ihrer Internetpräsenz ab. „Unter anderem geht in den Diskussionen zu viel durcheinander, das Freischalten von Beiträgen dauert zu lange, und nicht zuletzt bekommen Pöbler zu oft die Chance, durch die Moderation zu rutschen“, schreibt SZ-Mitarbeiter Daniel Wüllner. Prompt hagelte es Kritik, dass durch das Abschalten eine Demokratie-befeuernde Diskussion abgewürgt werde. Hate Speech hilft der Demokratie aber auch nicht weiter.

„Geh sterben!“

Eine Studie der Amadeu Antonio Stiftung zeigt jetzt, was sich gegen Hate Speech tun lässt. „Geh sterben!“, lautet der Titel der Studie, „Umgang mit Hate Speech und Kommentaren im Internet“. Die Stiftung beschreibt sich selbst mit dem Satz „Initiativen für Zivilgesellschaft und demokratische Kultur“ und setzt sich vor allem gegen Rechtsextremismus ein. Der Namensgeber der Stiftung, Amadeu Antonio, ein Arbeiter aus Angola, wurde 1990 von rechten Jugendlichen im brandenburgischen Eberswalde zu Tode geprügelt.

„Lies bloß nicht die Kommentare“, so lautet eine Weisheit nicht nur unter Journalisten und Bloggern. Aber kann das die richtige Antwort auf so viel gedankenlosen Müll sein, der ins Netz gekippt wird? Reicht es, sich umzudrehen und zu ignorieren? Die Stiftung sagt „Nein“ und will mit ihrer Studie aufklären und unterstützen. Die Erfahrung aus dem Berufsleben lehrt: Wer sich nicht gegen Mobbing oder dumme Sprüche wehrt, bekommt den Opfer-Stempel aufgedrückt – und wird immer wieder bloßgestellt, gedemütigt, erniedrigt.

Hate Speech funktioniert immer gleich

„Die Feindbilder sind altbekannt“, heißt es im Text, „Juden, Linke, (Queer-)Feministinnen, Schwarze, Muslime, Homosexuelle und Flüchtlinge.“ Tatsächlich gehen die Pöbler im Netz noch viel weiter, das hat meine Erfahrung gezeigt. So gut wie jeder bekommt eine Ladung Hass ab, die doch eigentlich nur den Hater selbst entlarvt.

Hate Speech funktioniert dabei immer gleich. Unabdingbare Zutaten sind:

  • Meinung statt Tatsachen,
  • Unterstellungen und Kritik am darin behaupteten Sachverhalt,
  • Unpassende Bilder,
  • Übertriebene Übertreibungen,
  • Kennislosigkeit,
  • Stellvertreterkriege,
  • Provokationen,
  • Sticheleien,
  • „Wir“ gegen „Die“,
  • Verschwörungstheorien,
  • armselige Rechtschreibung, Satzbau, Interpunktion,
  • strenge Einseitigkeit.

Manchmal braucht man das Stilmittel der Übertreibung, um Sachverhalte veranschaulichen zu können („todmüde“). Mitunter kippt diese auch als Hyperbel bekannte Übung aber ins stammtischhafte, ins übertrieben Übertriebene:

15.04.2015; 19:25
Unbekannter bewirft Auto von einer Brücke in Bochum aus
von Bochumerjunge66 | #1
Wenn man die zufassen bekommt,die müssten für immer weggespert werden. (www.derwesten.de)

Der obige Kommentar ignoriert die Prinzipien der Menschenwürde, des Rechtsstaats sowie der Justiz – und übertreibt die berechtigte Forderung nach Bestrafung („für immer weggesperrt“) der Täter. Zudem fehlt das zweite „r“ in „weggesperrt“: Wer in Rage schreibt, hat nicht die Muße, seinen Beitrag korrekturzulesen.

Hate Speech ist auf vielen Ebenen problematisch:

  • Es trifft, ohne zuzutreffen (Goethe: „Das Wort verwundet leichter, als es heilt.“)
  • Die Angreifer verstecken sich hinter der Maske der Anonymität
  • Hate Speech ist selten justiziabel
  • Die Betroffenen haben kaum Möglichkeiten, Hate Speech zu kompensieren – sind aber dazu gezwungen, die Kommentare zu lesen (z.B. Foren-Moderatoren)
  • Hate Speech versteckt sich hinter Scheinargumenten („Haben wir noch nie so gemacht“) und Fehlschlüssen („100.000 Menschen können nicht irren“)
  • Die Betreiber der Seiten haften unter Umständen für Nutzerkommentare auf ihren Seiten mit („Forenhaftung„)

Sämtliche Gegenstrategien wie Ignorieren, Diskutieren oder Ironisieren haben Nachteile. Sie sind aufwändig und teuer, und nicht jeder Verlag will sich die Manpower leisten, die es braucht, um wirklich jeden Beitrag zu moderieren. Aber sollte die Konsequenz wirklich sein, alles abzuschalten?

„Dieses Dreckvolk hat gar kein Rech in Deutschland auch nur irgend eine Demo durchzuführen. Schauen wir doch mal in das Deutsche Grundgesetz. Ach nu Gugge ma da!“
Unbekannter Kommentator auf www.mdr.de; Rechtschreibfehler im Original

Abschalten wie bei der Süddeutschen Zeitung kann auch konstruktiv sein, die Diskussionen können an anderen Orten weitergehen. In ausgewählten Beiträgen, in sozialen Netzwerken, im Dialog mit dem Kunden-Service, mit zuständigen Stellen, Behörden, Organisationen. Ein schönes Beispiel dafür, dass aus jeder These („Wir brauchen Diskussionen“) und jeder dazugehörigen Antithese („Wir müssen die Diskussionen abschalten, die Pöbler machen sie uns kaputt“) auch eine Synthese entspringt („Die Diskussionen gehen weiter, aber nicht hier und nicht in diesem Umfang“).

Immer gleiche Belastung

„Hunderte, teilweise Tausende Kommentare am Tag zu lesen, ist eine starke Belastung“, sagt Torsten Beeck, Head of Social Media Spiegel Online, in der Amadeu-Antonio-Studie, „und wenn man den immer gleichen Vorwürfen, absurden Verschwörungstheorien und Anfeindungen ausgesetzt ist, löst das zumindest Kopfschütteln aus.“ Den eher harmlosen Trollen könne man mit Humor begegnen, bei anderen helfe nur die „Ultima Ratio“ – Sperrung.

Anna-Mareike Krause von tagesschau.de empfiehlt vor allem „Haltung“ und „Präsenz“. Nutzerkommentare könnten auch hilfreich sein, indem sie auf Fehler oder Ungereimtheiten in der Berichterstattung hinweisen.

„Rechtlich ist Hate Speech kaum beizukommen“, schlussfolgert die Amadeu Antonio Stiftung, und die Autoren sehen die Zivilgesellschaft und die Betreiber des betroffenen Medien-Angebots in der Pflicht.

Lösungsmöglichkeiten

Das Problem Hate Speech ist im Übrigen kein Kind des Internets, auch andere Mediengattungen mussten und müssen darauf eine Antwort finden. Das Tagesgespräch auf WDR 5 zum Beispiel widmet sich im Kern der Meinung des Hörers. Täglich dreht sich die Sendung um ein bestimmtes Thema („E-Bikes“, „Ärzte“, „BND“), und jeder, der Lust hat, kann anrufen und seine Meinung sagen. Naturgemäß bricht hin und wieder der Stammtisch durch, doch WDR 5 findet gute Antworten auf die Herausforderung Hate Speech:

  • Keine Anonymisierung: Hörer-Kommentare nur mit Nennung von Klarnamen und Wohnort
  • Filterung: Anrufer werden von der Redaktion auf sinnvolle Beiträge geprüft, in einem Gespräch, bevor sie on air gehen
  • Moderation: geführtes Gespräch durch den Radio-Moderator: hat der Anrufer wenig mehr als Stammtischmeinungen, Parteiwerbung oder Pöbeleien zu bieten, wird der Beitrag des Anrufers zügig beendet
  • Einordnung: Sowohl der Moderator als auch der stets anwesende Experte zum jeweiligen Thema können den Beitrag des Anrufers einordnen, bewerten, in einen Zusammenhang stellen
  • Richtigstellen: Der Experte zum Thema hat weitreichende Sachkenntnis (z.B. ein Arzt bei einem Gesundheits-Thema) und kann leicht aktuelles Zahlenmaterial, Forschungsergebnisse oder auch bereits altbekannt, aber wenig verbreitete wissenschaftliche Fakten reichen, um sachlich falschen Aussagen zu begegnen
  • Kontrollierte Situation: den Anrufern ist das alles bekannt, und das dürfte die gröbsten Pöbler schon abhalten

Vor allem das Einordnen in einen weitreichenderen Wissens-Kontext sowie die Konfrontation mit umfangreichem Fachwissen (Zahlen, Daten, Fakten) haben sich nach meiner Erfahrung als erfolgreich erwiesen, um Hate Speech, Stammtischgerede und Pöbeleien zu beenden.

Kinder besonders bedroht

Natürlich kann jeder reife Internet-Surfer selbst entscheiden, ob er sich Nutzerkommentaren aussetzen will oder nicht. Kinder und junge Erwachsene können allerdings oft nicht die nötige Distanz zum Geschehen aufbringen, die man braucht, um auf die unqualifizierte Meinung anderer pfeifen zu können. Zu drängend scheint vielen der Druck der eigenen Peer-Group oder des jeweiligen Sozialen Netzwerks zu sein.

Gerade Kinder und Jugendliche sind da besonders gefährdet, 17 Prozent von ihnen berichten davon, dass über ihre Person schon einmal Falsches oder Beleidigendes im Internet verbreitet wurde. Das ist ein Ergebnis der JIM-Studie 2014 des medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest. Demnach wurden peinliche oder beleidigende Videos bzw. Fotos wurden bei 14 Prozent der Internet-Nutzer ohne zu fragen online gestellt. Eltern können bei der Medienkompetenz-Initiative Schau Hin Was Dein Kind mit Medien macht erste Hilfestellungen bekommen.

Polizei durchsucht Wohnungen

Manchmal geht die Hetze sogar so weit, dass der Verdacht auf Antisemitismus oder Volksverhetzung aufkommt. Im April 2015 durchsuchte der Polizeiliche Staatsschutz Wohnungen von drei Personen in Berlin (Spandau, Marzahn-Hellersdorf, Neukölln). Sie standen im Verdacht, über soziale Netze fremdenfeindliche Hetze betrieben zu haben. Alle Durchsuchungen fanden belastendes Material.

Ist also Abschalten im Zweifelsfall der richtige Weg? Schließlich gibt es unter Bloggern auch den Spruch „Never take the bait“, „beiß niemals in den Köder“. Denn: Ein Pöbler zieht die Antwortenden auf sein Niveau runter und schlägt sie dort mit Erfahrung.

Lösung: Die knappe, sachorientierte Konfrontation mit Fakten hat sich aus meiner Sicht als besserer Weg als Abschalten erwiesen. Gleichzeitig sollte man aufpassen, tatsächlich nicht in den Köder zu beißen, und nach ein, zwei Gegen-Kommentaren auf weiteren Kontakt verzichten. Inhaltlich kann man die Pöbler sowieso nicht überzeugen, aber man kann ihnen zeigen, dass ihnen Gegenwind droht. Bei Totalausfällen, Antisemitismus oder Menschenverachtung hilft natürlich nur Abschalten und den betreffenden User sperren.

Gelegentlich findet sich ja auf einen Hate Speech sogar ein beklatschenswerter Konter:

 Kommentar: Da habt ihr doch keine Wahl ihr Lügner … ihr seid nur Instrumente!!
Antwort »Die Welt«: Ich bin eine Oboe. Und das lasse ich mir von dir auch nicht verbieten.

Tl;dr: Nutzer- oder Leserkommentare unter Beiträgen in Foren oder journalistischen Web-Angeboten rutschen oft ins Unsachliche. Abschalten ist aber nicht immer der richtige Weg – Ideen aus dem klassischen Journalismus sowie eine neue Studie der Amadeu Antonio Stiftung zeigen Lösungsmöglichkeiten auf.

 

0173 - 206 99 49 - info(@)timmuessle.de
Diese Seite nutzt keine Cookies.