Was macht der Fußball im Bankschließfach?
In einem Bankschließfach in Essen ruht der Schatz von Peter Schreiber. Der Friseurmeister öffnet das Fach nur selten, und wenn, dann nur mit Baumwoll-Handschuhen. Der Schatz im Schließfach stammt aus dem Jahr 1954, ist rund, gehört ins Eckige und trägt 15 Unterschriften von Fußball-Heroen, die bei der WM von 1954 dabei waren. Beim legendären „Wunder von Bern“.
1954 war Schreiber drei Jahre alt. Sein Vater fuhr zur WM nach Bern, der kleine Peter blieb zu Hause in Gelsenkirchen. Mit in Papas Gepäck: Ein eigens gekaufter Fußball, ähnlich des damaligen Turnierballes. „Mein Vater war ein ganz großer Fußballfan“, sagt Schreiber, der als Friseurmeister in Essen ein eigenes Geschäft hat, „und er kannte den Berni Klodt persönlich. Der kam ja auch aus Gelsenkirchen.“
Bernhardt „Berni“ Klodt gehörte zur deutschen Fußball-Nationalmannschaft von 1954. Im Finale saß er allerdings auf der Ersatzbank. Er hätte also vielleicht Zeit gehabt, den Ball für Unterschriften herumzureichen. Schreiber: „Mein Papa hat mir erzählt, dass der in der Halbzeit die Unterschriften bekommen hat.“
Fußball-Artefakte wie der Ball von Peter Schreiber erinnern an eine Periode, in der Fußball noch nicht so stark wie heute inszeniert wurde. Vielleicht ist das „Wunder von Bern“ auch deshalb heute noch wichtig. Nach dem WM-Sieg 1954 feierten viele Deutschen die Wiedergeburt des Selbstbewusstseins. Man war wieder wer – und hatte das Gefühl, es auch wieder sein zu dürfen. Zudem kam der Sieg unerwartet. Deutschland hatte vor dem Finale gezittert. Denn bereits im zweiten Spiel der WM hatte die „Goldene Elf“, wie die Ungarn damals ihre Nationalmannschaft nannten, Deutschland mit 8:3 vom Platz gefegt.
Und im Finale führt Ungarn lange 2:0. Als Underdog gelang es Deutschland dann doch noch irgendwie, drei Tore zu schießen. Vielleicht erklärt auch das die Faszination, die 60 Jahre alte Fußbälle mit verblassenden Unterschriften heute noch auslösen können. Ansgar Molzberger ist Dozent an der Sporthochschule Köln. Er weiß: „18- oder 19-jährige Studenten kennen heute die WM von 1954, im Gegensatz zu der von 1974. Die ist vergessen.“
Das „Wunder von Bern“ faszinierte Fußball-Deutschland so stark, dass selbst die Dopingvorwürfe rund um das Team in der Öffentlichkeit kaum Beachtung fanden. Das Thema Doping kam auf, als im Oktober 1954 die ersten Fälle von Hepatitis unter Spielern der Nationalmannschaft öffentlich wurden: Fritz Walter, Otmar Walter, Helmut Rahn, Max Morlock, Ersatztorwart Bernd Kubsch.
Man zog damals Professor Peter Harmsen zurate, Direktor des Hygienischen Instituts in Hamburg. Harmsen erwog Injektionen als möglichen Übertragungsweg unter den Spielern. Der DFB räumte ein, dass ein Teil der Spieler Vitamin-C-Injektionen bekommen habe, und nicht, wie Kritiker behaupten, leistungssteigernde Mittel. Einwegspritzen gab es 1954 noch nicht, und das Hepatitis-Virus hätte bei einer mehrfachen Verwendung einer Spritze leicht übertragen werden können.
Eine einzige Spritze für viele Sportler? Denkbar. Mitte der 50-er Jahre war die Welt noch eine andere. Ehefrauen brauchten die Zustimmung ihrer Gatten, wenn sie eine Arbeitsstelle annehmen wollten. Jeder vierte arbeitete in der Landwirtschaft und auf 100 Frauen zwischen 25 und 45 Jahren kamen nur 77 Männer.
Auch die Fußballspieler waren anders. Die Bundesliga kam erst 1962, und obwohl die Spieler auch damals keine waschechten Amateure mehr waren, war es in Deutschland noch ein weiter Weg bis zum Profifußball aktueller Prägung. Die kunstvollen Frisuren, die Tätowierungen und die Selbstinszenierungen fingen erst so richtig mit David Beckham an. Peter Schreibers Fußball ist ein Relikt aus einer Zeit, in der die Fußballhelden noch nahbarer wirkten, ehrlicher, realer. „Die Inszenierung der Fußballstars hat sich gewandelt, es geht in die Richtung von Popstars“, sagt Ansgar Molzberger.
Kann der Ball von Peter Schreiber echt sein? Die Unterschriften? Und warum interessiert das heute überhaupt noch jemanden, 64 Jahre danach? Für den Friseurmeister Peter Schreiber hat die Frage nach der Echtheit von Ball und Unterschriften nie eine Rolle gespielt. „Mein Vater hat mir den Ball vermacht, bevor er gestorben ist. Deshalb habe ich da nie drüber nachgedacht. Mir wurde berichtet, der Ball sei während der Halbzeit des Finales für Unterschriften herumgereicht worden.“ Schreiber hält die Story für plausibel: „Das waren ja damals auch ganz andere Zeiten, die Fußballer waren nicht solche Ikonen wie heute, ich denke, da ging es schon etwas lockerer zu.“
Möglich wär’s – einen handfesten Beweis hat Schreiber nicht. Da ist er nicht allein in der Fußballwelt, wer tiefer eintaucht, findet Geschichten, die die Phantasie anregen. So bot im Jahr 2009 beispielsweise eine Geschäftsfrau aus München einen Fußball an, mit Unterschriften der Weltmeister von 1954 und 1974, für 10.350 Euro. Und im Jahr 2015 wollte ein Betrüger aus dem Erzgebirge den angeblich echten Ersatzball aus dem Finale von 1954 für 54.000 Euro verkaufen – ein Betrugsversuch, der auffiel. Zwei Jahre später wurde der damals 66-Jährige in Kassel wegen Betrugs zu einer Geldstrafe von 2000 Euro verurteilt worden, berichtete dpa.
Darum muss Wolfgang Fuhr immer besonders wachsam sein. Fuhr ist Geschäftsführer der Agon Sportsworld GmbH, eines der bekanntesten Auktionshäuser für Sport-Memorabilia. Er sagt zu Peter Schreibers Ball: „Sowas haben viele Leute. Viele haben sich damals Bälle gekauft und haben dann Nationalspieler signieren lassen. Solche Legenden entstehen nach 50, 60 Jahren.“
Fuhrs Hinweis auf „Legenden“ ist wichtig, denn Fälscher bieten inzwischen alles an, was sich gut nachmachen und verkaufen lässt. Trikots von bekannten Spielern aus berühmten Matches, oder Eintrittskarten – hier sind besonders Tickets zu Spielen von 1930 bis 1950 beliebt. Dem Fußball-Magazin 11freunde nennt Wolfgang Fuhr hier Fälschungsquoten von „über 90 Prozent“.
Wenn es eine Institution in Deutschland gibt, die Peter Schreibers Ball beurteilen kann, dann ist es das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund. Schließlich liegt dort der echte Ball des Finales von 1954, in einer eigenen Abteilung, hinter Spezialglas. Manuel Neukirchner ist der Direktor des Deutschen Fußballmuseums. Er findet: „Die Geschichte können wir Ihnen natürlich so nicht bestätigen, wir halten sie jedoch auch nicht für unwahrscheinlich. Der Ball stammt aus den 1950er-Jahren, es handelt sich jedoch nicht um einen offiziellen Spiel- oder Trainingsball der WM.“ Dafür habe der Ball von Peter Schreiber auch die falsche Größe.
Anhand von Fotos kommt Neukirchner zum Schluss: „Auf den ersten Blick entsprechen die Unterschriften von Werner Kohlmeyer, Horst Eckel, Fritz Walter, Berni Klodt und Ottmar Walter weitestgehend denen des Finalballs in unserem Hause.“ Schreibers Ball ist offenbar kein Einzelstück: „Da es nicht unüblich war, Bälle signieren zu lassen, wird es sicherlich noch einige unterschrieben Exemplare gehen“, so Neukirchner.
Klingt, als könnte Peter Schreibers Geschichte wahr sein. Vielleicht hat Berni Klodt den Ball von Papa Schreiber in der Halbzeit herumgereicht, vielleicht zu einer anderen Gelegenheit. Vielleicht sind die Unterschriften auch ganz anders auf die Pille gekommen. Zu der Geschichte des Balls im Bankschließfach gehört auch: „Fußball war jahrelang überhaupt nicht wichtig für mich“, sagt Peter Schreiber, „und der Ball lag auch jahrelang nicht in einem Bankschließfach, sondern in einem einfachen Pappkarton in der Garage. Den Ball hatte ich schon fast vergessen.“ Erst bei einem Umzug kommt Schreiber die historisch anmutende Kugel wieder unter die Nase.
Im Fußball wird nicht nur viel gekickt, sondern auch viel geredet, werden viele Storys erzählt. Weil es eine Beschäftigung ist, über die man eben viel reden kann – und wo es gleichzeitig ungefährlich ist. Jedenfalls weniger anstrengend, als sich mit den eigenen Finanzen, der Rente oder der Gesundheit zu befassen.
Eine der schönsten Geschichten ist die von Werner Kohlmeyers Ball. Kohlmeyer war im Finale 1954 Verteidiger, stoppte unter anderem in der 53. Minute einen Schuss des Gegners noch auf der eigenen Torlinie. Aus Bern brachte er einen Ball mit nach Hause, unterschrieben von allen Weltmeistern, weiß der DFB zu berichten. Die Autogramme sind allerdings kaum noch zu erkennen, denn „Kohli“ hielt den Ball eben nicht unter Schloss und Riegel. Er gab den Ball seinen Kindern, die das taten, was man gemeinhin mit Fußbällen macht: Sie spielten damit. Heute liegt die geschundene Kugel im Museum des 1. FC Kaiserslautern.
Fußball ist einfach. Man braucht eigentlich keinen DFB, keine FIFA und kein Fußballmuseum, um Freude am Fußball zu haben. Man braucht nur einen Ball, ein paar Kumpels und zwei Rucksäcke als Tor. Jeder Neunjährige kann sich so an der Bewegung und an der eigenen Leistung berauschen. Kann davon träumen, einmal Fußballprofi zu werden. Ganz egal, wo er herkommt oder was die Eltern verdienen.
Und wenn der Neunjährige auf dem Bolzplatz dann mal verliert, dann lernt er durch den Fußball eben Verlieren, was ja bekanntlich die Persönlichkeit bildet. Dafür stehen Artefakte wie Werner Kohlmeyers abgespielter Ball, der Finalball im Fußballmuseum in Dortmund oder eben auch Peter Schreibers Ball im Bankschließfach. Man muss nur die überhitzten Frisuren, die Werbebanner und das Gerede über Statistiken und Möglichkeiten mal sein lassen, zwei Pullis als Torpfosten auf den Boden legen und den Fußball einfach Fußball sein lassen.
Hinweis: Der Artikel erschien, zum Teil gekürzt, in der Wochenendbeilage der WAZ, im Stadtmagazin Coolibri und auf t-online.de. Auf diesem Blog wurde der Text zum ersten Mal am 17.9.2019 veröffentlicht.