Warum holt ein Automobil-Zulieferer Rentner aus dem Ruhestand zurück?
Berater, Mentoren, Ausbildung und Hilfe zur Selbsthilfe – Erfahrene Experten ab 60, Rentner, Pensionäre, sind vielen Firmen inzwischen Gold wert. Erschienen in der Westfälischen Rundschau vom 3. April 2012
Früher hieß es, wer einmal zum „alten Eisen“ gehört, ist und bleibt abgemeldet. Heute ist das Gegenteil der Fall. Fachkräfte mit jahrzehntelanger Erfahrung sind gefragter denn je in Deutschland. So gefragt, dass sogar Ruheständler aus der Rente raus, zurück in den Job geholt werden. Vor allem in technischen Berufen, aber auch im Sozialen und im Gesundheitsbereich.
Über 2000 Einsätze in 90 Ländern
Dass Fachkräfte im Ruhestand immer gefragter werden, hat auch der Senior Experten Service in Bonn registriert. Diese gemeinnützige Gesellschaft vermittelt nicht nur Ingenieure, sondern unter anderem auch Lehrer oder Experten aus Gesundheitsberufen nach Deutschland und in alle Welt, um dort Menschen auszubilden und zu beraten – allerdings ehrenamtlich, also ohne Honorar oder Vergütung.
Der SES kam im Jahr 2010 auf über 9000 Experten in seiner Kartei und auf über 2000 Einsätze in rund 90 Ländern – „das bislang erfolgreichste Jahr“, heißt es im Jahresbericht.
Beispiel: Kirchhoff. Der Automobil-Zulieferer aus Iserlohn hat vor gut einem halben Jahr den Ruheständler Karl-Heinz Weidner aus Wörth bei Karlsruhe reaktiviert. Weidners Erfahrung als Ingenieur und als Führungskraft ist zu wertvoll, um sie brach liegen zu lassen. „Natürlich habe ich die offizielle Stelle mit Freuden verlassen und mich über die Freizeit gefreut“, erzählt der 58-jährige Weidner aus seinem Eintritt in den Vorruhestand bei Daimler. „Aber ich hatte schon immer Spaß daran, Wissen weiterzugeben, und dann hat sich
das hier angeboten.“
„Das hier“ ist Weidners neuer Job bei Kirchhoff. Der Ingenieur ist allerdings nicht fest angestellt, sondern er arbeitet nur rund vier Tage in der Woche als Berater, als Coach, als Mentor. Weidner wohnt in den vier Tagen pro Woche im Hotel im Sauerland, seine Familie daheim in Wörth steht hinter ihm. Er fungiert als Mentor von Mario Kranklader (28), Wirtschaftsingenieur und junger Bereichsleiter in der Abteilung Schweißen.
Bewerber beurteilen, Mitarbeiter instruieren
Dabei hat Kranklader nicht nur technische Aufgaben, sondern auch soziale – etwa Bewerber beurteilen oder Mitarbeiter instruieren. „Führung lernt man gut durch Abschauen“, sagt Frank Buchholzki, Operations Director von Kirchhoff. Weidner weiß, wie man sich im sozialen Dschungel eines großen Unternehmens am Besten verhält; die Fallstricke für Führungskräfte sind straff gespannt und gut getarnt. „Ohne einen Mentor braucht man bestimmt drei Mal so lange, um das alles zu lernen“, sagt Kranklader, der sich das Büro mit Weidner teilt. „Und man zerschlägt möglicherweise viel Porzellan“, ergänzt Buchholzki.
„Porzellan“ wie zum Beispiel gute Beziehungen innerhalb eines Werkes. Schlägt einer bei einem Problem mal den falschen Ton an, wird eine Stufe in der Hierarchie übergangen oder eine E-Mail missverständlich formuliert, ist das Versöhnen hinterher aufwendig und schwierig und es kostet Zeit, die Kranklader für seinen eigentlichen Job braucht. Diese im Neudeutsch als „Soft Skills“ bekannten Fähigkeiten machen etwas mehr als die Hälfte der Mentor-Beziehung zwischen Weidner und Kranklader aus, der Rest
dreht sich um die Technik.
GmbH vermittelt Ruheständler
Der Kontakt zwischen Kirchhoff und Weidner kam über das Unternehmen Automotive Senior Expertes (ASE) zustande, eine GmbH in Mannheim, die sich die Vermittlung von Experten aus dem Autozuliefererbereich zum Ziel gesetzt hat. „Die Folgen des demografischen Wandels tun vielen Firmen richtig weh“, beschreibt ASE-Geschäftsführer Steffen Haas die Grundlage seines Erfolges. Über das Honorar, das Weidner bekommt, schweigen die Beteiligten. Nur so viel: 500 bis 950 Euro täglich seien üblich in der Branche.
Und die Branche wächst. Noch im Jahr 1999 zählte die Bundesagentur für Arbeit knapp über 47 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Alter von 65 bis 70 Jahre in Deutschland. Im Juni 2011 waren es
bereits 92 000. Der Trend gilt auch für die darüberliegenden Altersklassen, die Rubrik 60 bis 65 Jahre hat sich schier verdoppelt im gleichen Zeitraum – von 548 000 auf über 1,2 Millionen. Gleichzeitig sank die
Zahl der Jüngeren, etwa in der Klasse 30 bis 35 Jahre: von 4,3 auf rund 3 Millionen. „Die Leute wollen keine Fehlschläge, die wollen Spaß haben an der Arbeit“, sagt ASE-Chef Haas, „dafür braucht man allerdings Interessenten, die nicht länger als fünf Jahre aus ihrem Beruf raus sind. Es ist weniger die fachliche Seite, die viele dann verlieren, sondern eher ihre Disziplin und ihre Spannung.“